Sozialpolitik und Armut in Deutschland - Zusammenhänge und Entwicklung im neuen Jahrtausend.
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- online resource
- 9783842843776
- 361.610943
- HN445.5 -- .P489 2014eb
Sozialpolitik und Armut in Deutschland -- Inhaltsverzeichnis -- Einleitung -- 1. Sozialpolitische Entwicklungen in Deutschland -- 1.1 Verlauf der wohlfahrtsstaatlichen Neuausrichtung in der BRD nach der Abkehr vom Keynesianismus bis zum Jahr 1998 -- 1.2 Paradigmatische Wende und sozialpolitische Umgestaltungsprozesse in der Bundesrepublik ab 1998 -- 2. Veränderungen der sozialen Lage in der BRD -- 2.1 Die Entwicklung von Armut und sozialer Ungleichheit in der Bundesrepublik seit der Jahrtausendwende -- 2.2 Zusammenhänge zwischen politischen Maßnahmen und Armutsentwicklungen in Deutschland ab dem Regierungswechsel 1998 -- 3. Sozialstaatlichkeit im Umbruch? -- 3.1 Die gegenwärtige Veränderung von Wohlfahrtsstaatlichkeit und ihre Zusammenhänge und Hintergründe in der Bundesrepublik -- 3.2 Armuts-, Ungleichheits- und Gerechtigkeitsaspekte im deutschen Sozialstaat der Gegenwart -- Schlussbetrachtung -- Literatur- und Quellenverzeichnis.
Sozialstaat und Sozialstaatlichkeit, das sozialstaatliche Leistungssystem und der Sozialstaatsgedanke an sich, haben innerhalb der letzten Jahrzehnte erhebliche Veränderungen erfahren. Etwa seit der Jahrtausendwende vollzog sich eine charakterliche Neuausrichtung des deutschen Sozialstaats, verbunden mit einem qualitativen Wandel wohlfahrtsstaatlicher Leistungen.Was genau geschehen ist und welche Auswirkungen sich hinsichtlich der Entwicklung von Armut und sozialer Ungleichheit im Land feststellen lassen, wird in der vorliegenden Studie näher untersucht. Konkret wird betrachtet, welche Änderungen im Sozialstaatsgefüge durch die Politik erfolgt sind und welche armutsrelevanten Auswirkungen sich faktisch feststellen lassen. Außerdem wird untersucht, welche diesbezüglichen Entwicklungen in der Bundesrepublik eindeutig bzw. nachweislich im Zusammenhang mit den geänderten sozialen Gegebenheiten stehen und was sich theoretisch und plausibel darauf zurückführen lässt. Darüber hinaus wird die veränderte Sozialstaatlichkeit unter dem Aspekt der sozialen Gerechtigkeit und der Armutsvermeidung betrachtet und beurteilt. Auszug aus dem TextTextprobe:Kapitel 1.1, Verlauf der wohlfahrtsstaatlichen Neuausrichtung in der BRD nach der Abkehr vom Keynesianismus bis zum Jahr 1998:Kaum ein anderer Politikbereich unterliegt solchermaßen Veränderungen wie die Sozialpolitik. Ein eindeutiger Beginn des wohlfahrtsstaatlichen Wandels unserer Zeit ist in Deutschland bereits in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik der 80er Jahre festzustellen. Mit dem Amtsantritt des Bundeskanzlers Helmut Kohl verfestigte sich ab 1982 der sog. Neoliberalismus, der bereits einige Jahre zuvor begonnen hatte, die keynesianisch gesteuerte Politik in der Bundesrepublik abzulösen. Der Neoliberalismus drücke, so der Sozialwissenschaftler Rainer Roth (1999), 'nicht nur aggressive Erfordernisse eines
krisenhaften Stadiums der Kapitalverwertung aus, sondern auch eine Kräfteverschiebung zwischen Staat und Konzernen'. Je mehr die ökonomische Macht von Banken und internationalen Unternehmen wachse, desto stärker werde ihre Position gegenüber der Politik und desto mehr verlangten sie, selbst zu bestimmen.Eine Folge war die Drosselung staatlicher Ausgaben, jedoch 'weitgehend nur im Bereich der soziaalstaatlichen Leistungen. [...] Die Liste der zwischen 1982 und 1990 verfügten Streichungen und Kürzungen sozialstaatlicher Leistungen ist lang.' Neben zahlreichen Kürzungen bei verschiedenen Versicherungs- und Transferleistungen setzte die Regierung Kohl auch auf Verschärfungen von Anspruchsvoraussetzungen, Sanktionen (u.a. schrittweise Erhöhung der Sperrzeiten) und der Zumutbarkeitsregelung für Erwerbslose, um ihr erklärtes Primärziel, das Überwinden der bestehenden Wirtschaftskrise, zu verwirklichen. Paradigmatisch ummantelt wurden die Maßnahmen mit einer Art Leistungsideologie - es müsse mehr produziert / gearbeitet und weniger konsumiert werden. Die Leistungsbereitschaft des Einzelnen sei gesunken. Außerdem dürfe es keine Ausbeutung der Fleißigen durch die Faulen geben. Gleichermaßen wurde um Verständnis geworben: Die Sicherung des sozialen Netzes verlange nach Opfern, einen anderen erfolgversprechenden Weg gäbe es nicht. Auch in den Massenmedien der Bundesrepublik wurde die Auffassung, 'dass eine 'Wende zum Weniger' nötig sei […] wie ein Naturgesetz behandelt, dem zu widersprechen hieß, sich lächerlich zu machen'.Faktisch liefern international vergleichende Analysen bis heute keine greifbaren Belege dafür, dass ein verhältnismäßig hohes Sozialleistungsniveau die Wirtschaftskraft eines Landes beeinträchtigt. Eher wirkt ein umfassendes Maß an sozialer Gleichheit und Sicherheit als produktiver Faktor auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einer
Gesellschaft zurück, was an späterer Stelle (Kap. 3) genauer erläutert werden soll.Im Folgenden eine kleine Auswahl sozialpolitischer Änderungen im Überblick: Im Jahr 1982 verdoppelte man die Vorversicherungszeit für den Anspruch auf Arbeitslosengeld von sechs auf zwölf Monate sozialversicherungspflichtige Beschäftigung und senkte die Höhe des Unterhaltsgeldes in der Arbeitsförderung. Der Beitragssatz zur Sozialversicherung stieg von 3% auf 4% an. Zudem billigte das Bundeskabinett eine Verdoppelung der Sperrzeit sowie neue Zumutbarkeitsregeln für Arbeitslose - letztere waren in der zweiten Hälfte der 70er Jahre schon zweimal verschärft worden. 1984 wurden Arbeitslosengeld, Kurzarbeitergeld und das sog. Schlechtwettergeld, eine Vorgängerleistung des heutigen Saison-Kurzarbeitergelds, von 68% auf 63% des vorangegangenen Nettoeinkommens verringert und die Höhe der Arbeitslosenhilfe von 58% auf 56% des früheren Nettoentgelts abgesenkt. Daneben kam es sowohl zu einer weiteren Kürzung des Unterhaltsgeldes als auch zu einer erneuten Verlängerung der Sperrzeit, die nun um weitere vier Wochen auf zwölf Wochen ausgeweitet wurde. Ab 1986 wurden bei der Bedürftigkeitsprüfung für Arbeitslosenhilfe auch Einkommen und Vermögen von Partnern in sog. eheähnlichen Gemeinschaften (der Begriff umfasste damals noch beinahe jede Form des Zusammenwohnens und -wirtschaftens zwischen Mann und Frau) einbezogen. Im Bereich der Rentenversicherung beschloss man 1983 neben einer Erhöhung des Beitragssatzes unter anderem, dass rentenähnliche Zusatzeinkünfte künftig der Krankenversicherungspflicht unterliegen sollen. 1984 folgte eine Reduzierung der Rentenanpassung durch Überarbeitung der allgemeinen Bemessungsgrundlage, 1989 wurde die Bruttolohnorientierung der Renten aufgegeben und die Lebensarbeitszeit für Frauen erhöht. Bei der Krankenversicherung wurden verschiedene
Leistungsansprüche der Versicherten vermindert, während Zuzahlungen und Eigenbeteiligungsanteile umfassend erhöht wurden. Im Sozialhilfebereich erfolgte vor allem eine sukzessive Herabsetzung der Regelsatzanpassung. Entgegen dem Trend des sozialstaatlichen Rückbaus verbesserte sich die finanzielle Förderung von Familien. In der Familienpolitik ermöglichte 1986 die Einführung von Erziehungsgeld und Erziehungsjahr, eine strukturelle Neuerung, dass erstmals auch Väter Erziehungsurlaub in Anspruch nehmen konnten. Sozialpolitisch bedeutend war auch das sog. Beschäftigungs-Förderungsgesetz aus dem Jahr 1985, das den Kündigungsschutz einschränkte, befristete Arbeitsverträge erleichterte und diverse Abweichungen vom Prinzip des Normalarbeitsverhältnisses begünstigte. Die Regierung senkte darüber hinaus die staatlichen Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik; vielmehr wurde versucht, das Überangebot an Arbeitskräften durch Frühverrentung und Altersteilzeit abzubauen. Eine auf sozialer Ebene ebenfalls relevante wirtschaftspolitische Entscheidung war im Sommer 1983 die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 13% auf 14%.Das zwischen 1982 und 1990 anhaltend positive Wirtschaftswachstum bei jedoch stark ansteigenden Arbeitslosenzahlen führte in Verbindung mit der betriebenen Sozialpolitik dazu, dass trotz wachsendem gesellschaftlichen Wohlstand eine relative Verarmung bei einem zunehmenden Teil der Bevölkerung eintrat - eine Entwicklung, auf die hier nur am Rande hingewiesen werden soll. Sozialpolitische Probleme blieben in hohem Maße ungelöst. Überdies sank die Sozialleistungsquote der Bundesrepublik von 30,1% im Jahr 1982 auf 26,5% im Jahr 1990. Das Armutsrisiko stieg in erster Linie für jene Personengruppen, die nicht oder nicht mehr am Erwerbsleben teilnehmen konnten. Zusammenhänge zwischen der gerade 1982 und 1983 äußerst entschieden praktizierten 'Politik der
Leistungseinschränkungen im Sozialbereich' und den steigenden Armutszahlen wurden regierungsseitig später geleugnet.1990 wurde die wirtschaftliche und politische Wiedervereinigung Deutschlands herbeigeführt (die bislang beschriebenen Vorgänge bezogen sich ausschließlich auf den westlichen Teil der heutigen BRD). Der ehemaligen DDR wurde dabei die strukturelle Ordnung der Bundesrepublik auferlegt, verbunden mit dem Versprechen 'es wird niemandem schlechter gehen als zuvor'. Bei der Bundestagswahl Ende 1990 konnten Helmut Kohl und seine schwarz-gelbe Regierung mit dieser und anderen zumindest sehr optimistisch gedachten Zusicherungen die gesamtdeutschen Wähler für sich gewinnen; 1994 wurde die Regierung Kohl noch einmal knapp im Amt bestätigt. In der Zeit von 1990 bis 1998 wuchsen die deutschen Staatsschulden von rund 1049 Milliarden DM auf über 2000 Milliarden DM an. Eine Folge der exorbitanten finanziellen Belastung - insbes. auch der Sozialversicherungen - durch den Prozess der Wiedervereinigung waren stark steigende Sozialbeiträge. Die Finanzierung der deutschen Einheit war ebenso ausschlaggebend dafür, dass die Sozialleistungsquote Mitte der 90er Jahre wieder bei etwa 30% lag. Roth (1999) weist darauf hin, dass die wachsende Staatsverschuldung eine wachsende Kontrolle von Ausgaben und Haushaltspolitik durch die Gläubiger hervorgerufen und den Einfluss der Staatsbürokratie geschwächt hat.Eine Zusammenfassung der wichtigsten sozialpolitischen Reformen zwischen 1990 und 1998 zeigt, dass sich gewisse Trends der vorausgegangenen acht Jahre fortsetzten. Bemerkenswert ist auch, dass einerseits mit der neuen Pflegeversicherung das Sozialversicherungssystem erweitert wurde und damit die Ausgaben erhöht wurden, während andererseits (auf der Einnahmenseite) eine zum Teil staatlich unterstützte Flucht aus der Sozialversicherung dessen Finanzierungsprobleme
verstärkte.
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